Mit Slogans wie „Wissen schafft Zukunft!“ und „Wir wollen Wissen!“ demonstrierten am vergangenen Samstag mehr als 25000 Teilnehmer auf ihren Märschen für die Wissenschaft in mehr als 22 Städten allein in Deutschland für eine Gesellschaft in der belegbare, wissenschaftliche Fakten mehr gelten sollen als wichtiger Habitus, Geglaubtheiten und Bauchgefühl kurz: als forsch verpackte, alternative Fakten.
Das obige Bild ist der für Pressearbeit zur Verfügung gestellten Bildersammlung der MARCH FOR SCIENCE-Webseite entnommen. Aus der Pressemitteilung der Organisatoren vom MARCH FOR SCIENCE
„Worum geht es?
Die wichtigste Voraussetzung einer funktionierenden Demokratie sind ihre informierten Bürger. Wenn wissenschaftlich erwiesene Tatsachen geleugnet, relativiert oder „alternativen Fakten“ als gleichberechtigt gegenübergestellt werden, um daraus politisches Kapital zu schlagen, gefährdet das nicht nur die Existenzberechtigung der Wissenschaft, sondern die Demokratie insgesamt. Der „March for Science“ in Deutschland demonstriert daher gegen den Populismus mit seinen Halbwahrheiten und Lügen – und für faktenbasierte Diskussionen als Grundlage einer freien, demokratischen Gesellschaft.“
Von Ranga Yogeshwar – Privatbestand Yogeshwar, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10498821
Der unter anderem aus „Quarks & Co“ bekannte Wissenschaftsjournalist, Experimental- und Astrophysiker R. Yogeshwar rief ebenfalls zur Teilnahme an den Märschen für die Wissenschaft mit den Worten auf: „Steht auf und artikuliert euch!“
W. Stieler beleuchtet den „Aufstand der Nerds„, wie er die Aktion „MARCH FOR SCIENCE“ in seinem Beitrag in der Technology Review nennt.
„Uff, liest noch jemand mit?„! ist das Statement, mit dem er seine (Selbst-)Kritik an langen und komplexen Texten des Diskurses kommentiert. Soll man demonstrieren gehen, wenn man doch vor allem neben Gleichgesinnten laufen wird, die nicht überzeugt werden müssen? In einem weiteren Punkt weist er darauf hin, dass wissenschaftliche Fakten nicht unumstößlich, also nur für die Zeit faktisch gelten, bis andere Ergebnisse zu neuer Bewertung und damit zu einem neuen Verständnis eines Zusammenhangs oder Tatbestands führen. Neubewertung ist steter Begleiter wissenschaftlicher Erkenntnis, resümiert er in der Bewertung der FAQ-Texte der Organisatoren der Märsche für die Wissenschaft.
„Das geht in die richtige Richtung. Mal sehen, ob es dort auch ankommt.“
So schließt W. Stieler seinen Artikel. Die Mitteilung des Statistischen Bundesamts vom September 2016 über Promivierende in Deutschland im Wintersemester 2014/2015 nennt eine Zahl von etwas weniger als 200.000 Promovierende (also Menschen innerhalb des Verfahrens der Erlangung des wissenschaftlichen Doktorgrades) und schlüsselt diese Zahl genauer auf. Wikipedia nennt im Verlauf auch Zahlen für ausgewählte, vergangene Jahre. Unter der Annahme, nur ein geringer Anteil der Promovierenden promoviert in einem zusätzlichen Fachgebiet, ist davon auszugehen, dass ein erheblicher Anteil der Bevölkerung wissenschaftliche Arbeit und Bewertung auch auf diesem Niveau kennt. Wissenschaftliche Arbeit und Forschung findet jedoch nur zum Teil in Hochschulen, sondern zu einem erheblicheren Teil als Bestandteil von Beschäftigung im privaten wie öffentlichen Sektor durch Menschen ohne akademischen Titel(-)wunsch statt.
Warum also ein Marsch für die wissensbasierte Gesellschaft?
Entscheidungen und Bewertungen sind oft außerhalb der speziellen, persönlichen Kompetenz zu treffen. Kritisches Hinterfragen, Suche nach Fakten und Bezügen, Prüfen der Plausibilität sind anstrengend. Selbst- oder fremdernannte Experten stellen ihre Sicht der Dinge dar, ohne dass deren Kompetenz einer unabhängigen Prüfung standhalten muss. Das Delegieren von Entscheidung und Vertrauen auf Fremdkompetenz ist (zu) einfach. In der Art eines modernen Ablasshandels gibt es ein gutes Gewissen für Klicks auf Petitionsanfragen (und damit Abgabe persönlicher Daten) für und gegen Alles und dessen Gegenteil.
Mündigkeit ist mühevoll. Mündigkeit sieht anders aus.
Mündige Bürger informieren sich, engagieren sich, hinterfragen und revidieren gegebenenfalls ihre Meinung gemäß Faktenlage und neuer Erkenntnis. Der Kopf eines aufrechten Menschen befindet sich über dem Bauch. Entscheidungen sollten nicht deshalb mit dem Kopf getroffen werden, weil er höher positioniert ist, sondern weil er abwägen, wissen, bewerten und perspektivisch entscheiden kann.
Wissenschaft und Technik besiegen Hunger und Durst, Krankheit und Uninformiertheit in vielen Teilen der Welt. Den Anspruch auf Mit-Sprache, Mit-Einscheidung und Mit-Wissen löst nur eine kompetente und aktive Bürgerschaft ein. Physikalische Gesetze lassen sich nicht unterdrücken. Biologische und ökologische Zusammenhänge verlieren sich nicht aufgrund von Dekreten und Glaubensbekenntnissen.
Wissensorientierte Menschen glauben!
… denn das Hinterfragen und Revidieren, das Aufstellen und Widerlegen von Hypothesen ist ihr tägliches Brot. Sie sind von der Bedingtheit der Erkenntnis überzeugt.
Viele glaube-bekennende Menschen meinen zu wissen!
… aber in dem Augenblick, wo aus ihrer Überzeugung „höheres Wissen“ wird, ist Glaube obsolet. Er endet.
Nicht ein Marsch, nicht 1000 Märsche für die Wissenschaft bringen Menschen ihre Kompetenz zurück, sondern nur der ausgetragene Diskurs über Versuche und deren Ergebnisse, nur das Beherrschen von Information, Wissen und Technik, nur das Bemühen um Erkenntnis.
Es hängen noch viele Früchte am Strauch der Erkenntnis, die es einzubringen gilt. Makerspaces, sich für die Gewinnung von Erkenntnis öffnende Institutionen (z. B. Forschungseinrichtungen) können Fundament für eine neue Mündigkeit von Bürgern werden. Mitmarschieren ist gut und richtig, aber genügt das?